2023 sind die Deutschen nach Corona in die Kinos zurückgekehrt, folgt man den entsprechenden Statistiken und Bilanzen der Kinobetreiber und Filmverleiher. Über 87 Millionen Tickets wurden verkauft, die Kinolandschaft erholt sich also, soweit es die Besucherzahlen und damit die Umsätze betrifft. Und der im Juni 2023 von Kulturstaatsministerin Claudia Roth realisierte »Kulturpass für 18-Jährige« scheint erfolgreich auch für Kinobetreiber: In über 740 teilnehmenden Filmtheatern ist ein Ticketvolumen von mehr als 2,5 Millionen Euro eingelöst worden. Freilich sind es Filme wie »Barbie« – 6 Millionen Zuschauer – und, ein wenig überraschend, »Oppenheimer«, der eher spröde Film über den »Vater der Atombombe« mit über 4 Millionen Zuschauern. Der erfolgreichste deutsche Film des Jahres war »Die drei ??? – Erbe des Drachen«, Tim Dünschede führte Regie, die Vorlage stammt wieder von André Marx als weiterer Teil der Jugendbuchreihe »Die Drei ???«: 1,6 Millionen Zuschauer sahen den Film. »Rehragout Rendezvous« von Ed Herzog mit dem Schauspielerteam Simon Schwarz, Sebastian Bezzel, Lisa Maria Potthoff und Eisi Gulp erweist sich erneut als zugkräftiger Kino-Dauerbrenner der Niederbayern-Serie: Schwarzer Humor, den rund 1,5 Millionen Zuschauer haben wollten. Und Til Schweiger punktete bei immerhin 1,3 Millionen Gutwilligen mit »Manta Manta – Zwoter Teil«, einer gar nicht unsympathischen »Feelgood-Komödie mit Herz«. »Sonne und Beton«, ein Comingof-Age-Film von David Wnendt, ist die Verfilmung des Buch-Bestsellers von Felix Lobrecht. Der Film ist überzeugend eingebettet in das brisante soziale Problem-Milieu von Neukölln / Berlin, und die jugendlichen Darsteller spielen erfreulich authentisch und damit glaubwürdig, was den fast 1,2 Millionen Kinogängern gut gefiel.

»Wochenendrebellen« wollten immerhin 940 000 Zuschauer sehen, einen Film von Marc Rothemund, auch dies die Verfilmung eines autobiographischen Buches. Erzählt wird von Mirco von Juterczenka und seinem autistischen Sohn Jason, deren Leidenschaft »Groundhopping« ist, also der Besuch von Fußballspielen in möglichst vielen Stadien. Entstanden ist eine solide und punktuell sensible Tragikomödie, konventionell, aber erfreulich unsentimental. Margarethe von Trotta setzt mit »Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste« die Reihe ihrer Verfilmungen von Biografien starker Frauen fort: Vicky Krips spielt die Hauptrolle in diesem leider etwas biederen Film über die außerordentliche Dichterin aus Klagenfurt und ihre gescheiterte Liebesbeziehung zu Max Frisch. İlker Çatak, türkischstämmiger Regisseur aus Berlin, schuf mit »Das Lehrerzimmer« ein intelligentes, vielschichtiges Schulfilmdrama, das – in Inszenierung und Spiel ganz weit weg von typischen Klischees – enormes Kritiker-Echo erhielt und mit dem Deutschen Filmpreis 2023 als »Bester Spielfilm« gekrönt wurde. »Roter Himmel« von Christian Petzold ist sicherlich einer der interessantesten deutschen Filme des Jahres 2023, eine Art Kammerspiel in einem Ostsee-Ferienhaus, Künstler unter sich und über ihnen die Drohung einer nahenden Feuerwalze. Stilsicher und für Petzold fast leichtfüßig inszeniert mit einem Touch von Eric Rohmers »Erzählungen der vier Jahreszeiten «. Natürlich muss auch »Anselm« von Wim Wenders genannt werden, denn wieder erweist der sich als hochklassiger Dokumentarfilmer mit seinem visuell überzeugenden Porträt des Ausnahmekünstlers Anselm Kiefer.

Schauspielerin des Jahres ist ganz klar Sandra Hüller. Zunächst in Filmen wie Hans-Christian Schmids »Requiem«, »Anonyma – Eine Frau in Berlin«, dann vor allem in der vielfach preisgekrönten Vater-Tochter-Tragikomödie »Toni Erdmann«. Im Jahr 2023 war sie in »Sisi & Ich« von Frauke Finsterwalder zu sehen, wofür sie eine Nominierung für den »Deutschen Filmpreis« bekam. »The Zone of Interest« ist ein Film von Jonathan Glazer, die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Martin Amis über Rudolf Höss und seine Familie – der war Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz. Sandra Hüller verkörpert dessen Frau. Dieser herausfordernde Film – eine intensive Studie über die »Banalität des Bösen« – wurde als britischer Kandidat für den »Auslands-Oscar 2024« gewählt. Absolut brillant, nämlich äußerst nuancenreich und intensiv, überzeugte Sandra Hüller in Justine Triets raffiniertem Psychothriller »Anatomie eines Falls«. Zum Europäischen Filmpreis 2023 wurde sie für beide Filmrollen nominiert – ein einmaliger Fall.

Jochen Schmoldt
Februar 2024, Nürnberg
Journalist

Das türkische Kinojahr 2023 fühlte sich ähnlich an wie die allgemeine Weltlage: Blut, Hass, Tränen und zwischendurch kurze Glücksmomente. Die Erdbeben, die auch den Norden Syriens zerstörten, brachten das Gleichgewicht in einer Region, die in vielerlei Hinsicht ohnehin aus den Fugen geraten war, buchstäblich zum Einsturz. Nicht nur das Leben zehntausender Menschen wurde zerstört, sondern auch kulturelles Erbe, darunter Kinosäle. Zivilgesellschaftliche Solidarität spielte eine lebenswichtige Rolle; die Kinobranche beispielsweise stellte ihre Produktionsfahrzeuge für Hilfstransporte zur Verfügung. Die Zerstörung und der Schmerz sind nach wie vor allgegenwärtig. Umso wichtiger ist es jetzt, aktuelle Dokumentarfilme über das Erdbeben wie »Hatay: 17 – 24 Nisan 2023« (Hatay: 17.-24. April 2023) und »Hatay: 1 – 11 Eylül 2023« (Hatay: 1.-11. September 2023) von İmre Azem einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Das traditionsreichste Filmfestival der Türkei in Antalya musste im 60. Jubiläumsjahr wegen des Dokumentarfilms »Kanun Hükmü« (Kraft des Gesetzes) abgesagt werden. Es war keine indirekte Zensurpraxis wie so oft in der Vergangenheit, sondern wurde durch öffentliche Stellungnahmen von Ministern offiziell bestätigt. Unter dem enormen politischen Druck durch die Regierung in Ankara und dem oppositionellen Bürgermeister der Stadt (zugleich Präsident des Events), der keinen Widerstand leistete, litt letztendlich die künstlerische Leitung des Festivals. Das Stadtoberhaupt übernahm keine Verantwortung, stellte die künstlerisch Verantwortlichen auf die Abschussrampe und versprach, das Festival noch 2023 nachzuholen. Das Jahr ging zu Ende und dieser Zensurfall verschwand wie viele andere Probleme des Landes in einem schwarzen Loch.

Für große Freude dagegen sorgte Nuri Bilge Ceylan mit seinem neuen Werk »Kuru Otlar Üstüne« (Auf trockenen Gräsern), das in Cannes im Wettbewerb lief. Die Hauptdarstellerin Merve Dizdar wurde für ihre großartige Performance als Beste Darstellerin ausgezeichnet. Doch ihre Preisrede, in der sie die Auszeichnung »allen kämpferischen Seelen« widmete, entfachte einen chaotischen Schlagabtausch. Die Mainstream-Medien schlachteten lieber Dizdars Statement aus, als sich mit dem Film künstlerisch auseinanderzusetzen. Dabei war Merve Dizdars Schauspielkunst längst bekannt. Für ihre Rolle in Selcen Erguns Debütfilm »Kar ve Ayı« (Schnee und Bär), in dem sie »den Existenzkampf einer einsamen jungen Frau in der Provinz« darstellt, war sie beim Filmfestival Antalya ebenfalls als Beste Darstellerin ausgezeichnet worden.

Die 55. SIYAD-Filmpreise – organisiert vom Verband der Filmkritikerinnen und Filmkritiker – dominierte Emin Alpers Film »Kurak Günler« (Burning Days). Der Film thematisiert die Lynchkultur und wie ein Mensch »zum Anderen« abgestempelt wird. Diese Themen stehen auch in Özcan Alpers »Karanlık Gece« (Dunkle Nacht) im Mittelpunkt. Unter den Filmemacherinnen sorgte neben Selcen Ergun auch Melisa Önel mit ihrem Film »Aniden« (Plötzlich) für große Aufmerksamkeit. Ihre Hauptdarstellerin Defne Kayalar, die die innere Reise einer Frau in İstanbul vor ihrer Rückkehr nach Hamburg darstellt, wurde beim 34. Filmfestival Ankara als Beste Darstellerin ausgezeichnet. Auch »Cam Perde« (Die gläserne Decke), die von den heimtückischen Erscheinungsformen der Gewalt gegen Frauen handelt, brachte dem Regisseur Fikret Reyhan in Ankara den Sonderpreis der Jury ein. Umut Subaşıs Film »Sanki Her Şey Biraz Felaket« (Als wäre alles ein bisschen katastrophal), der die Gefühlswelten und den Überlebenskampf der großstädtischen Jugend in einer humorvollen Sprache thematisiert, wurde zum Liebling unserer Festivals. Der Regisseur gewann u. a. beim Filmfestival Adana den Preis Bester Film.

Entgegen dem internationalen Trend ging die Zahl der verkauften Tickets in der Türkei zurück. »Oppenheimer« überflügelte »Barbie« und errang in den Box-Office-Listen den zweiten Platz. An erster Stelle landete »Rafadan Tayfa Galaktik Tayfa« (Weichgekochte Besatzung, Galaktische Besatzung), ein auf einer Kinderserie der staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt TRT beruhender Animationsfilm. Der Kassenerfolg einer Kinderkomödie sagte viel über unseren Seelenzustand aus. Es herrschte insgesamt eine große Nachfrage nach Unterhaltung. Deswegen überraschte auch nicht, dass Ali Atays »Ölümlü Dünya 2« (Sterbliche Welt 2) den fünften Platz errang.

Doch der allgemeine Pessimismus im Land wirkte sich dennoch auf die Besucherzahlen aus. Im Gegensatz zum Jahr davor wurden 2023 fünf Millionen Tickets weniger verkauft – knapp 31 Millionen. Die gegenwärtige wirtschaftliche Talfahrt kann nicht die einzige Erklärung dafür sein. Man muss auch die Preispolitik der Branche unter die Lupe nehmen, die die ansteigenden Produktionskosten durch extrem erhöhte Ticketpreise an das Publikum weitergibt. Viele hatten den Rückgang an Zuschauerzahlen, der sich nach der Pandemie leicht erholt hatte, vorausgesehen. Darunter der Star-Comedian Ata Demirer, der seinen mit großer Spannung erwarteten Streifen »Bursa Bülbülü« (Die Nachtigall von Bursa) digitalen Plattformen verkaufte, wofür er scharfe Kritik erntete. Sein Versuch, die Reaktionen abzumildern und den Film nachträglich in die Kinos zu bringen, führte an den Kassen nicht zum erhofften Ergebnis. Cem Yılmaz dagegen produzierte seinen neuen Film »Do Not Disturb« direkt mit einer digitalen Plattform. Es wurde mit Freude bekanntgegeben, dass der Streifen in der globalen Rankingliste den achten Platz verbuchte. Käufer und Verkäufer waren gleichfalls zufrieden.

Mit »Hayat« (Leben) kam ein Film in die Kinos, der wie erwartet für großes Aufsehen sorgte. Die Geschichte einer jungen Frau, die dem Druck ihrer Familie und der Provinz nur durch die Flucht in die Großstadt entkommen kann, hält einer männerdominierten Gesellschaft den Spiegel vor. Ayşe Polats »Im toten Winkel« (Kör Noktada), der beim 42. Filmfestival İstanbul als Bester Film ausgezeichnet wurde, gewährt uns nicht minder einen tiefen und unbehaglichen Blick in die Dunkelheit, in der sich die Türkei befindet. Ein Lichtblick für die Filmkunst waren eindeutig die Nachwuchsregisseure Selman Nacar mit »Tereddüt Çizgisi« (Im Zweifelsfall) und Nehir Tuna mit »Yurt« (Heimat), die ihre internationalen Premieren in Venedig feierten.

Alles in allem ging uns im Jahr 2023 vieles verloren, einiges konnte aber erhalten werden. Das Kino Beyoğlu, das gegenüber dem vom Kulturministerium renovierten Kino Atlas 1948 liegt, wurde von der Istanbuler Kommune gerettet und dem Publikum kostenfrei zur Verfügung gestellt. Ein kleiner Trost neben der Wirtschaftskrise, dem Rückgang an Ticketverkäufen, der Zensur, der immensen politischen Unterdrückung. Das Jahr 2023 war im Grunde genommen wie das Jahr zuvor.

Esin Küçüktepepınar
Februar 2024, İstanbul
Filmkritikerin & Beraterin des İstanbul Filmfestivals