Hale Soygazi

Schauspielerin, Türkei

Hale Soygazis Laufbahn als Schauspielerin stellt im türkischen Kino eine Ausnahme dar. Mit ihrem künstlerischen Schaffen und mit ihrer politischen Haltung hat sie nicht nur den Kinosektor nachhaltig geprägt. Durch die Auswahl ihrer Rollen und durch eine kompromisslose Interpretation ihrer Figuren sorgte sie mit dafür, dass das massentaugliche Starsystem, aber auch die Männerdominanz nicht nur in der Filmbranche immer mehr in Frage gestellt wurden.  

Mitte der 1970er Jahre war Hale Soygazi durch ihre Rollen in Melodramen einem breiten Kinopublikum bekannt. In einer Ära, in der die Türkei sich in bürgerkriegsähnlichen Zuständen befand, versuchte die Kinobranche die tiefe politische und wirtschaftliche Krise durch billige Sexkomödien zu überbrücken. Viele der weiblichen Leinwandstars versuchten ihre Karrieren als Sängerinnen fortzusetzen. Für Hale Soygazi war das eine Zäsur. 1978 spielte sie in Yavuz Özkans gesellschaftskritischem Film »Maden« (Die Mine) die Hauptrolle, für die sie auf dem bedeutendsten Filmfestival des Landes in Antalya als Beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Danach lehnte sie alle kommerziellen Angebote kategorisch ab, engagierte sich nach dem Militärputsch 1980 politisch, setzte sich auch für die Rechte ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Filmbranche ein. Ihr Comeback feierte sie 1984 mit der Hauptrolle in Atıf Yılmaz’ Film »Bir Yudum Sevgi« (Ein Hauch von Liebe), für die sie in Antalya erneut als Beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde.  

Danach spielte Hale Soygazi auch die Hauptrollen in »Bekle Dedim Gölgeye« (Warte, sagte ich dem Schatten) und »Kadının Adı Yok« (Die Frau hat keinen Namen) von Atıf Yılmaz. »Kadının Adı Yok« war eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Duygu Asena, einer der Pionierinnen der feministischen Bewegung in der Türkei. In der türkischen Kinohistorie gelten diese Filme, die die Geschlechterrollen radikal in Frage stellten und die Welle der sogenannten »Frauenfilme« einleiteten, als Meilensteine. 

Hale Soygazi wird den Ehrenpreis am Eröffnungsabend des Festivals persönlich entgegennehmen. 

 

 

Das künstlerische Schaffen von Hale Soygazi ist sehr stark geprägt von ihrer Intellektualität, ihrem sensiblen Humanismus und ihrer konsequenten gesellschaftspolitischen Haltung. Zum Filmstar wurde sie in den 1970er Jahren – dank einer weltoffenen, städtisch ausgeprägten Bildung und nicht zuletzt einer ihrem Selbstvertrauen entspringenden Anmut. Es war kein Zufall, dass sie 1989 in einer Dokudramareihe Cahide Sonku, die erste Grande Dame der türkischen Kinogeschichte, verkörperte. Den Erfolg von Hale Soygazi zeichnet eine Beständigkeit aus, die den Spagat zwischen populärem Kino und anspruchsvoller Filmkunst spielerisch schafft.

Ihre Karriere, in der sie die schauspielerische Kraft hinter ihrer zerbrechlich anmutenden Erscheinung erst später zeigen sollte, startete sie, wie es damals ganz üblich war: 1972 gewann sie den Schönheitswettbewerb der Zeitung »Saklambaç«. Anschließend wurde sie in Sardinien zur schönsten Schauspielerin Europas gekürt, wonach sie mit Filmangeboten überschüttet wurde, nicht zuletzt dank ihres fließenden Französisch. Wer weiß, vielleicht wäre sie die neue Monica Vitti geworden, wären da nicht ihre verbindlichen Arbeitsverträge in der Türkei gewesen.

1972 startete Soygazi durch, mit Filmen in ganz unterschiedlichen Genres. Dadurch gelang es ihr, sich sehr schnell inner- und außerhalb des Starsystems von Yeşilçam, dem türkischen Hollywood, zu etablieren. Zuerst spielte sie in Natuk Baytans Historienabenteuer »Kara Murat: Fatih’in Fedaisi« (Kara Murat: Sultan Fatihs Held) und dann in Osman F. Sedens Melodram »Mahkum« (Sträfling) – in beiden Filmen an der Seite von Cüneyt Arkın, einem der männlichen Stars von früher. In »Kahpe / Bir Kız Böyle Düştü« (Die Schlampe / Der Absturz eines Mädchens) von Ülkü Erakalın verkörperte sie eine tragische Heldin, in der Komödie »Süt Kardeşler« (Milchgeschwister) arbeitete sie mit Ertem Eğilmez zusammen. Danach folgten weitere Filme mit anderen namhaften Regisseuren und Schauspielern, durch die sie die Filmwelt sehr schnell kennenlernte.

Als Hale Soygazi die Titelseiten von Illustrierten und die Träume der Kinofans zu füllen begann, spielte sie 1973 in dem Film »Bir Demet Menekşe« (Ein Veilchenstrauß), der zum Wendepunkt ihrer Karriere wurde. Das Drehbuch stammte vom bekannten Schriftsteller Selim İleri. Dem Regisseur Zeki Ökten gelang es, die in Yeşilçam-Filmen so oft wiederholte Geschichte einer außerehelichen Beziehung zwischen einem reichen Mann und einer armen Frau mit authentischen Charakteren zu füllen. Soygazi spielte eine junge Schneiderin, die sich gegen die verlogene Männerwelt auflehnt. Als dann die Produktionsfirma Erman Film zum 50. Gründungsjahr der türkischen Republik 1973 die dritte Neuverfilmung des Klassikers »Vurun Kahpeye« (Erschlagt die Schlampe) begann, übernahm Soygazi unter der Regie von Halit Refiğ die Hauptrolle der idealistischen Lehrerin Aliye, die sich gegen die reaktionären Vorstellungen der Gesellschaft stellt.

Die tiefgehenden gesellschaftspolitischen Umwälzungen Ende der 1970er Jahre wirkten sich auch auf das Yeşilçam-System aus. Es wurden immer mehr politische Filme gedreht, wie zum Beispiel »Maden« (Die Mine) von Yavuz Özkan. Die Handlung basiert auf den Arbeitskämpfen in einem Bergwerk. Hale Soygazi spielt darin eine junge Frau, die auf einem Rummelplatz arbeitet. Für ihre Rolle wurde sie 1978 beim Filmfestival Antalya als Beste Darstellerin ausgezeichnet.

Der Militärputsch 1980 führte zu einem radikalen gesellschaftlichen Umbruch, auch in der Kinobranche. In jener dunklen Ära pausierte Hale Soygazi für einige Jahre und kam 1984 als eine mutige und emanzipierte Schauspielerin zurück, die die Filmindustrie so dringend brauchte. Sie begann mit dem Altmeister Atıf Yılmaz zusammenzuarbeiten. In dessen Film »Bir Yudum Sevgi« (Ein Hauch von Liebe) verkörperte sie eine Frau, die sich auf die Suche nach der wahren erotischen Liebe begibt – jenseits von gesellschaftlichen Konventionen und Klassenzugehörigkeiten. Für ihre mutige und leichtfüßige Interpretation der Figur wurde Soygazi beim Filmfestival in Antalya zum zweiten Mal als Beste Schauspielerin ausgezeichnet. Soygazi gelang es mit Bravour, der Heldin einer authentischen Geschichte der Schriftstellerin Latife Tekin, Leben einzuhauchen. Im Film verwandelt sie sich in eine Frau, die ihren Lebensunterhalt selbst verdient und sich aus einer unglücklichen Ehe zu befreien versucht, um ihre wahre Liebe und ihre Leidenschaft kompromisslos auszuleben.

In Muammer Özers »Bir Avuç Cennet« (Eine Handvoll Paradies), einer Geschichte über die brutalen gesellschaftlichen Folgen der Landflucht, brillierte sie in der Rolle der Emine, die mit ihrer Familie obdachlos wird. Ihr ganzes Hab und Gut bringen sie in einem Anhänger unter, einschließlich ihrer Blumentöpfe. Als Emine am Wegrand ein Buswrack entdeckt, fleht sie ihren Mann an, darin ein neues Zuhause einzurichten. »Was verlieren wir, wenn wir einen Blick reinwerfen?«, fragt sie ihn, mit einem weißen Tuch auf dem Kopf und verzweifeltem Blick. Später lackieren sie den Bus in jenem Weiß des Kopftuchs und legen einen Garten an. Als der Bus schließlich von einem Kran abtransportiert und ihr Mann von Polizisten abgeführt wird, weil er den Kranführer zu stoppen versucht, schaut Emine ihren Mann wieder verzweifelt an. Doch ist ihr tieftrauriger Blick nun auch von trotzigem Widerstand geprägt.

Hale Soygazi ging mit ihrer künstlerischen Karriere und ihrer politischen Haltung stets mit größter Sorgfalt um. Das ist auch der Grund für die Anerkennung und die Faszination, die ihr entgegengebracht werden und nicht zuletzt auch der Anlass für zahlreiche Preise für ihr Lebenswerk, mit denen sie nun geehrt wird.

Alin Taşçıyan
Februar 2024, İstanbul
Filmkritikerin