Das türkische Kinojahr 2024
Neue Filmgeneration & die gesellschaftlichen Klassen

2024 trat eine neue Generation von unabhängigen Filmschaffenden in Erscheinung, und sie erinnerte uns daran, dass die Gesellschaft aus Klassen besteht. Beim populären Kino musste das Publikum unter mittelmäßigen Filmen wählen. Der Erfolg an den Kassen ließ sich aber nicht erzwingen – und es kam zu einem Debakel!
In einem Interview, das ich vor vielen Jahren mit Şerif Gören, einem der wichtigsten Regisseure des türkischen Kinos, durchführte, sagte er: »Ich bin ein Regisseur, der aus der traditionellen Filmemachergeneration kommt.« Womöglich war der Meisterregisseur einer der letzten Vertreter dieser Generation. Die junge Garde von Regisseurinnen und Regisseuren kommt inzwischen vom Kurz- und Dokumentarfilm oder aus der Fernseh- und Werbebranche. Das wurde uns 2024 erneut vor Augen geführt. Eine neue Generation von Filmschaffenden machte unverkennbar auf sich aufmerksam. Mit ihren Debütfilmen auf Festivals oder in den Kinos zählen dazu: Murat Fıratoğlu, Belkıs Bayrak, Nadim Güç, Nehir Tuna, Sinan Kesova, Erman Bostan, Baran Gündüzalp, Ozan Yoleri, Necmi Sancak, Hikmet Kerem Özcan, Ayçıl Yeltan, Soner Sert, Türker Süer, Doğuş Algül, Tunahan Kurt, Serpil Altın. Ihre Herangehensweisen an die Filmkunst und ihre Stile sind ganz unterschiedlich. Ihr gemeinsamer Nenner scheint die Leidenschaft für die Filmkunst zu sein. Allen gemeinsam ist auch, dass sie durch ihre Filme auf die chronischen Probleme der Türkei reagieren. Unbestritten ist die Tatsache, dass diese Filmschaffenden mit ihrem Mut und mit ihren auf Einzelschicksale fokussierten Erzählungen für Aufsehen im türkischen Kino sorgen. Nicht nur diese Debütanten, sondern auch Gürcan Keltek, Erkan Tahhuşoğlu, Vuslat Saraçoğlu, Orçun Behram, Selman Nacar und Mete Gümürhan, die wir bereits von ihren vorherigen Arbeiten kennen, zählen wohl zu dieser neuen Generation ...
Doch woran liegt die Begeisterung, die diese Künstlerinnen und Künstler entfachen? In erster Linie nehmen sie Abstand zu den Sorgen der Mittelschicht, die in den letzten Jahren in unserem Kino thematisch vorherrschten. 2024 erinnerten diese jungen Filmschaffenden uns wieder daran, dass die Gesellschaft aus Klassen besteht. Oder anders ausgedrückt: das türkische Kino hat begonnen, sich wieder mit der »Klassenfrage« auseinanderzusetzen. Die junge Generation erzählte in ihren Filmen entweder von Menschen der Unterschicht, die gegen Armut oder gesellschaftliche Unterdrückung kämpfen oder nahm die Mittelschicht ins Visier und brachte deren moralisches Dilemma auf die Leinwand. Beispielhaft dafür wären Döngü (Zyklus), Hemme’nin Öldüğü Günlerden Biri (Einer von Hemmes Todestagen), Acı Kahve (Bitterer Kaffee), Ayşe, Ölü Mevsim (Tote Jahreszeit), Fidanund natürlich Ümit Ünals Evcilik (Hotel Evcilik).
Das Kino in der Türkei nimmt sich endlich der Probleme alter Menschen an!
Die Filme Faruk von Aslı Özge, Mukadderat (Schicksal) von Nadim Güç und Büyük Kuşatma (Die große Belagerung) von Sinan Kesova waren insofern wichtig, weil sie sich auf die Geschichten von alten Menschen fokussierten, denen unser Kino längst den Rücken gekehrt hatte: Geschichten über Menschen, die von sehr aktuellen Problemen in der Türkei handeln. Mukadderat erzählt von einer Frau, die ihren Mann verloren hat und versucht, sich in einer Kleinstadt gegen den gesellschaftlichen Druck zu behaupten. In dieser inspirierten Erzählung gelingt der Schauspielerin Nur Sürer eine herausragende Leistung. In Faruk sehen wir einen republiktreuen, alleinlebenden alten Herrn, der um sein Wohnrecht kämpfen muss, weil das Haus, in dem er lebt, wegen der Stadterneuerungspläne vom Abriss bedroht ist. Der Film führt uns vor Augen, dass alte Menschen nicht nur in unseren Köpfen, sondern auch in den Metropolen kaum einen Platz haben! Büyük Kuşatma handelt von der Auflehnung einer Generation, bekannt unter dem Begriff Boomer, die immer stärkeren Ausgrenzungen ausgesetzt ist. Dass wir den Hauptdarsteller des Films, Alp Öyken, nicht öfter auf der Leinwand sehen, ist wirklich sehr schade.
Zu den ausgefallenen Produktionen gehörten Serpil Altıns Bir Zamanlar Gelecek: 2121 (Es war einmal Zukunft: 2121), der es wagte, das Genre Science Fiction im türkischen Kino jenseits altbekannter komödiantischer Erzählungen und durchaus mit universellen Maßstäben anzugehen. In Yeşil Şafak Solarken (Die verblassende grüne Morgendämmerung) gelingt es dem Regisseur Gürcan Keltek, ein visuell originelles Porträt von Istanbul zu entwerfen und zu zeigen, wie diese riesige Metropole den Bezug zur Realität verliert.
Die Geschichte von Kindern ohne Foto: »Dargeçit«
Gecenin Kıyısı (Der Rand der Nacht) wirft einen unaufgeregten Blick auf den Putschversuch vom 15. Juli 2016. Der Film erinnert uns nochmal an die Ereignisse in jener Putschnacht, folgt der Spur der großangelegten politischen Prozesse nach den unter »Ergenekon« und »Balyoz« bekannten Operationen und zeigt dabei, wie hilflos wir politischen Machtkämpfen ausgeliefert sind.
Der Dokumentarfilm Dargeçit (Engpass) von Berke Baş handelt von einem brennenden Problem. In den 1990er Jahren gab es Menschen, von denen man nach ihrer Festnahme durch Sicherheitskräfte nie wieder etwas hörte. Dargeçit erzählt ihre Geschichte am Beispiel des 12-jährigen Davut, den man verschwinden ließ. Davut war eines von vielen Kindern, von denen keine Fotos existierten. Nach seinem Verschwindenlassen wurde schließlich doch nur ein einziges Foto von ihm gefunden, mit dem ihn seine Familie jahrelang suchte.
Trotz der Rekorde in diesem Jahr warf das populäre Kino das Handtuch
Die unabhängigen Filmschaffenden gingen ihren Weg produktiv und beharrlich weiter, trotz allen Widrigkeiten im Jahr 2024. Und das populäre Kino? Diejenigen, die Filme für Massen drehen, suchen zunehmend in schattigen Plätzen Zuflucht. Blockbuster von ambitionierten Filmemachern mit Erfolgsgarantie an Kassen sind größtenteils auf digitalen Plattformen zu sehen. Folglich gelingt es kaum, die Massen in die Kinosäle zu locken. NebenKolpaçino 4 4’lük (Kolpaçino 4 voll), 3391 Kilometre (3391 Kilometer) und dem AnimationsfilmRafadan Tayfa 4: Hayrimatör (Weichgekochte Bande 4: Hayrimatör) gehörte Lohusa (Wochenbett) zu den Filmen mit den meisten Zuschauern. Die Kassenschlager waren also Horror- und Thrillerstreifen à la Turca sowie mittelmäßige Komödien. Bedenkt man, dass ein Kinobesuch in der Türkei inzwischen ein Luxus ist (durchschnittlicher Ticketpreis liegt bei 4,1 Euro, in großen Städten bis zu 7 Euro), so ist es nicht verwunderlich, dass diese mittelmäßigen Streifen keinen Zuspruch beim Publikum fanden. 2024 kamen insgesamt 447 Filme in die Kinos mit 31.954.000 verkauften Tickets. Von diesen 447 Filmen waren 206 türkische Produktionen. Seit 1989 hatten noch nie so viele türkische Produktionen ein Kinoauswertung. Insofern war das ein Rekord. Für diese 206 einheimischen Produktionen wurden allerdings nur 18.860.000 Tickets verkauft. Lediglich drei Produktionen überschritten die 1-Million-Zuschauer-Marke und 27 Filme die 100.000-Marke. Im Vergleich liefen vor der Pandemie im Jahr 2019 402 Filme im Kino, davon 143 türkische Produktionen, mit einer Gesamtticketzahl von 56,2 Millionen. Hiervon wurden 31,1 Millionen Karten für türkische Filme verkauft. Das heißt, auch wenn im Verhältnis zur Vor-Pandemie-Zeit mehr Filme in die Kinos kamen, gibt es einen erheblichen Rückgang bei den Zuschauerzahlen. Der Hauptgrund dafür ist die Wirtschaftskrise in der Türkei. Ein Kinobesuch ist in finanzieller Hinsicht mittlerweile eine echte Last. Und dem Publikum, das trotz allem ins Kino gehen will, wird immer noch kein nachhaltiges und qualitativ hohes Programm angeboten.
OLKAN ÖZYURT
Filmkritiker, Istanbul