Das deutsche Kinojahr 2024
Ein veganes Krokodil & die Ironie des Lebens

Im vergangenen Jahr sind weniger Menschen in Deutschland ins Kino gegangen als noch 2023. Insgesamt haben deutsche Filmtheater im Jahr 2024 nach vorläufigen Zahlen des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF Kino) 81 Millionen Tickets verkauft. Im Vergleich zu 2023 ist das ein Besucherrückgang von 7,3 %. Mit rund 19 % waren deutsche Filmproduktionen am Gesamtumsatz beteiligt. Freilich vor allem mit Kinder- und Jugendfilmen. Einzige erfolgreiche Ausnahme: Eine Million Minuten von Christopher Doll mit Tom Schilling und Karoline Herfurth: Immerhin 1,2 Millionen Kinogängern gefiel dieses Aussteiger-Road-Movie: »Ach, Papa, ich wünschte, wir hätten eine Million Minuten. Nur für die ganz, ganz schönen Sachen!«. Und prompt startet die Familie eine zweijährige Weltreise und reflektiert vor malerischen Kulissen ihre Luxusprobleme.
Die Schule der magischen Tiere 3 von Sven Unterwaldt Jr. sahen fast 3 Millionen Kinobesucher. Es ist die Verfilmung eines weiteren Bestsellerromans von Margit Auer mit einigem Witz und dubioser Umweltbotschaft: Auch ein Krokodil kann vegan sein!
In Chantal im Märchenland von Bora Dağtekin mit Fack ju Göhte-Star Jella Haase und Gizem Emre, Mido Kotaini, Max von der Groeben (2.729.112 Zuschauer) taucht Chantal mit nervender Internetsprache in eine dagegen hilflose Märchenwelt und dort produziert der effektreiche Film ein gnadenloses Gag-Zoten-Klischee-Feuerwerk.
Ganz weit weg von allem Klamauk ist dagegen Zone of Interest von Jonathan Glazer, eine polnisch-britisch-amerikanische Koproduktion mit sehr deutscher Thematik, ganz stark gespielt von Sandra Hüller und Christian Friedel. Dieser Film erreichte überraschende 880.000 Zuschauer in deutschen Kinos! Hüller spielt die Frau des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höß (Christian Friedel), die dicht am KZ Auschwitz eine gespenstische Idylle lebt. Der Film hat zu Recht den Oscar als bester internationaler Film gewonnen.
Alter weißer Mann von Simon Verhoeven erreichte immerhin 824.000 Zuschauer. Jan Josef Liefers in Bestform muss beweisen, dass er kein »alter weißer Mann« ist, der den Forderungen modernen Managements nicht mehr gewachsen sei. Eine sympathische Satire quer über das Minenfeld von Wokeness und zeittypischen Worthülsen.
Woodwalkers von Damian John Harper (700.000 Besucher) mit Oliver Masucci, Martina Gedeck und Hannah Herzsprung produzierte sehr gemischte Gefühle bei Kritik und Publikum dieses »Films für die ganze Familie« über junge »Gestaltwandler«, visualisiert nach den Fantasy- Bestsellerromanen von Katja Brandis.
Der Buchspazierer ist ein netter »Wohlfühlfilm«von Ngo The Chau mit Christoph Maria Herbst (600.000 Zuschauer) nach dem gleichnamigen Bestseller von Carsten Henn.
Zwei zu eins, eine realsatirische Komödie von Natja Brunckhorst mit Sandra Hüller, Roland Zehrfeld und Max Riemelt, erreichte 500.000 Besucher. Ein Film mitten im Bermudadreieck West-Ostdeutschland im Jahr nach dem Mauerfall und darüber, was passiert, wenn altes Geld auf neues Geld stößt. Klarer Sympathieträger für geschundene Ossis.
Die Herrlichkeit des Lebens von Georg Maas mit Judith Kaufmann mit Sabin Tambrea und Henriette Confurius (244.000 Zuschauer) ist das stille, durchaus berührende Drama über die letzte Liebe des todkranken Schriftstellers Franz Kafka zu Dora Diamant.
Sterben inszenierte Matthias Glasner mit Corinna Harfouch und Lars Eidinger (200.000 Zuschauer). Glasners Figuren sind fast alle hochdepressiv, kaputt, krank und leiden am Leben. Dank bestem Schauspiel und einer guten Grundierung mit pechschwarzem Humor entstand hier ein starkes Stück Kino.
Auch sehr stark: Andreas Dresens In Liebe, Eure Hilde mit Liv Lisa Friers und Johannes Hegemann (154.000 Besucher). Der Film widmet sich der vergessenen Hilde Coppi, die mit ihrem Ehemann Hans in den 1940er-Jahren einer Nazi-Widerstandsgruppe angehörte.
Die Ironie des Lebens von Markus Goller mit Corinna Harfouch, Robert Gwisdek und Uwe Ochsenknecht (150.000 Zuschauer), ist ebenfalls ein Film über das langsame Sterben, hier aber als Tragikomödie. Ochsenknecht überzeugt als egomanischer Goldkettchen-Comedian, der plötzlich große Sensibilität gegenüber seiner todkranken, aber umso lebenslustigeren Exfrau entwickelt.
Die Saat des heiligen Feigenbaums des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof ist wesentlich mit deutschem Geld produziert worden und wurde als deutscher Beitrag für den »Oscar« für internationale Filme nominiert – eine kontrovers diskutierte Entscheidung. Der intensive Film erzählt, am Beispiel einer vom Generationenkonflikt zerrütteten Familie, von den Massenprotesten im
Iran nach dem Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini im September 2022.
Ein Lichtblick – Für die deutsche Filmbranche ein »Meilenstein«: In nahezu letzter Minute hat die Bundesregierung die bestehende wirtschaftliche Filmförderung des Bundes auf eine Förderquote von satten 30% erhöht – ein wichtiges Signal für sämtliche Filmschaffende, Produktionen und Studios in Deutschland. Was natürlich nicht heißt, dass damit mehr anspruchsvolle Filme gedreht würden ...
JOCHEN SCHMOLDT
Journalist, Filmkritiker, Nürnberg