Fast ein Drittel weniger Besucher, insgesamt nur rund 70 Millionen, zählte die Kinobranche im krisengebeutelten Jahr 2022. Aber diese Zurückhaltung betraf die gesamte deutsche Kulturlandschaft, obwohl die Corona-Pandemie nicht länger ein Hindernis war. Schaden nahmen vor allem engagierte, ambitionierte Filme. Das Publikum wünschte offensichtlich vor allem, Unterhaltungsfilme zu sehen, die nicht mit realen Problemen belasten. Und so wundert es nicht, dass James Camerons »Avatar –The Way of Water«, Mitte Dezember 2022 bei uns gestartet, bereits weit über 5 Millionen zahlende Besucher in die Kinos gelockt hat.

Aber immerhin 2.441.302 Zuschauer sahen »Die Schule der magischen Tiere 2«, einen gelungenen Kinder- bzw. Familienfilm von Regisseur Sven Unterwaldt. Gute Animationen, vertraute Running Gags und vor allem klar definierte Charaktere selbst in schauspielerischen Nebenrollen konnten die Herzen der deutschen Zuschauer erwärmen.

Mit 1,7 Millionen Besuchern hat die Komödie »Wunderschön« einen Platz in den oberen Charts-Rängen errungen. Karoline Herfurth führte Regie und spielte auch selbst in einem hochklassigen Ensemble neben Martina Gedeck, Joachim Król, Nora Tschirner, Friedrich Mücke und Maximilian Brückner. Ein lebendiger, witziger Film über »Selbstoptimierung« als Hemmschuh zu wirklicher Persönlichkeitsentwicklung, bisweilen an den Rändern von Klischee-Klippen, die Karoline Herfurth aber ziemlich souverän umschifft.

Ed Herzog hat es erneut mit der 8. Verfilmung der Rita-Falk Romane und 1,4 Millionen Zuschauern geschafft: »Guglhupfgeschwader«. Sebastian Bezzel, Lisa Potthoff und Simon Schwarz, umrahmt von markanten Nebenfiguren, kämpfen sich erneut durch die Untiefen des niederbairischen Provinznests Niederkaltenkirchen. Immer noch mitreißend, diese temporeiche Melange aus Trübsinn, Irrsinn, Starrsinn, Stammtisch-Melancholie und niederschmetternder Komik.

Knapp 1 Million Betrachter gab es für »Rheingold«, Fatih Akins Biopic des Rappers Xatar, basierend auf dessen schillernder Autobiographie. Eine Steilvorlage für Akin und seine Faible für Randfiguren und krasse Außenseiter der Gesellschaft. Auf jeden Fall ein visuell beeindruckendes Melodram über einen vitalen jungen Mann, einen Migranten, der »von der Straße« kommt und weit nach oben aufsteigt.

Nicht schlecht kam Sönke Wortmanns »Der Nachname« in den Kinos an. Der Vorläufer »der Vorname« war überraschend erfolgreich. Warum nicht darauf aufbauen? Gedacht-getan. Ging es vorher recht witzig darum, ob man einen Sohn »Adolf« nennen könne, stolpern die giftenden Familien-Sippschaften diesmal über den Nachnamen »König«. Lebendiges Ensemble-Spiel mit herzerfrischend bösartigen Dialogen.

In Doris Dörries »Freibad« prallen an den Kanten des Freibads garnicht so freie Weltanschauungen aufeinander, manchmal witzig und provokant, meist aber leider eher albern und platt. Gerade mal 185.000 Zuschauer sahen sich den Film an.

Kaum besser erging es »Tausend Zeilen« von Michael Herbig nach der realen Vorlage über einen »Spiegel«-Journalisten, der in Serie Interviews und Stories erfunden hat, die dann unkontrolliert gedruckt wurden – vor Jahren ein üppiger Medienskandal. Bei Herbig leider nur eine etwas zähe Kolportage ohne allzu viel Biss.

Das macht der »Der Passfälscher« viel besser. Auch hier ist die Vorlage real, nämlich die authentische Geschichte von einem jüdischen Grafiker namens Cioma Schönhaus, der während des Zweiten Weltkriegs in Nazi-Deutschland mit sehr viel Chuzpe viele Menschen mit von ihm perfekt gefälschten Dokumenten vor dem Konzentrationslager und Tod bewahrte – und sich selbst schlussendlich damit rettete. Gedreht hat den überzeugenden Film die Autorin und Regisseurin Maggie Peren mit leichter, aber gar nicht oberflächlicher Hand.

Nur 163.000 sahen Andreas Dresens eigentlich nicht nur von Kritikern und Festival-Fachjuries gefeierten Film »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush«. Schade, denn trotz der ernsten Thematik – eine Mutter kämpft um ihren Sohn gegen die Mühlen der US-Justiz – hat der Film eine sympathische Leichtigkeit, getragen von einem motivierten Schauspielensemble.

»Im Westen nichts Neues« ist zunächst gar keine Kinoproduktion, sondern eine von Netflix für TV-Bildschirme. »Im Westen nichts Neues« ist der preiswürdige deutsche Beitrag im Wettbewerb zur Oscar-Verleihung 2023 in der Kategorie »Bester Internationaler Film«.

Aber einer der vielleicht schönsten deutschen Filme des Jahres 2022 ist »Die stillen Trabanten«. Es ist das intensive, atmosphärische Episoden-Mosaik über »unscheinbare« Menschen in der Großstadt, deren Einsamkeit und Sehnsucht nach menschlichem Kontakt, nach Liebe. Charly Hübner, Martina Gedeck und sogar Nastassja Kinski brillieren in diesem Film der leisen Töne ganz unsentimal und sehr berührend.

Regisseur Hüseyin Tabak und Drehbuchautor Florian David Fitz wagen sich in »Oskars Kleid« an ein riskantes Thema: die physische wie psychische Identitätssuche eines jungen Mannes. Da hätte viel schiefgehen können. Aber die deutsche Filmbewertungsstelle verlieh ganz zu Recht das höchste Prädikat »Besonders wertvoll«.

Jochen Schmoldt

Journalist
Nürnberg, Februar 2023

 

Bittere Abrechnung an den Kassen, Pessimismus in den Geschichten

Die türkische Kinobranche hatte in das Jahr 2022 größere Hoffnungen gesetzt, nachdem sie 2020 und 2021 pandemiebedingt mit großen Verlusten abschloss. Doch wurden die Erwartungen kaum erfüllt. Denn die Pandemie machte die strukturellen Mängel der Branche sichtbar, die sich durch die Monopolisierung der Verleihwege und der Kinosäle immer mehr verstärken. Diese seit 2007 andauernde wirtschaftliche Konzentration in wenigen Händen führte 2022 zu einer bitteren Abrechnung an den Kassen. Nach den Zahlen von boxofficeturkiye.com kamen 2022 insgesamt 366 neue Filme in die Kinos – mit 34,2 Millionen verkauften Tickets. Vor der Pandemie 2019 gab es 402 Neustarts mit 56,2 Millionen Besucher:innen. Ein Rückgang von 22 Millionen Tickets war das bittere Resultat, das die Monopolisierung mit sich brachte.

Selbst in den 1990er Jahren, in denen die Kinobranche einen tiefen Sturz erlitt und sich dann wieder erholte, gab es ein immens breites Programmangebot. Damals wurden in den Kinos neben türkischen Produktionen aller Genres auch europäische Filme, Hollywood-Streifen sowie Filme aus Lateinamerika bis hin zu Fernost gezeigt. Diese Vielseitigkeit sorgte nicht zuletzt für eine lebendige Kinokultur. Doch durch die Monopolisierung nach 2007 wurde diese Diversität zunehmend untergraben. So stark, dass selbst zahlreiche vom türkischen Kulturministerium geförderte Filme keinen Zugang in die Kinos fanden. Denn prätentiöse Streifen, unabhängig davon ob einheimisch oder ausländisch, besetzten die Kinosäle, so dass ein Publikum, das andere Ansprüche an das Kino stellte, kaum Filme angeboten bekam. Dieses Publikum begann bereits vor der Pandemie, sich vom Programmangebot zu distanzieren.

Es ist eine Tatsache, dass das Publikum immer auch qualitativ hochwertige Filme sehen will –  unabhängig davon, ob man das Kino als Unterhaltung oder Kulturgut begreift. Doch die angebotenen Filme, von Komödien über Dramen bis hin zu Horrorfilmen, rutschten immer mehr in eine Mittelmäßigkeit ab. Getragen von einer Haltung, die die Intelligenz des Publikums geringachtet, was unser türkisches Publikum gar nicht mag.

Diese Umstände sowie die Wirtschaftskrise, in der sich das Land derzeit befindet, führen dazu, dass viele Menschen nicht mehr in die Kinos gehen. Schauen sie sich aber deswegen keine Filme mehr an? Doch, und wie! Auf digitalen Plattformen, die bereits während der Pandemie als fast die einzige Alternative zu sein schienen. Viele Filmemacher:innen, nicht wenige davon beherrschen auch die Kinokassen, ziehen es mittlerweile vor, ihre Produktionen auf digitalen Plattformen zu präsentieren anstatt in den Kinos. Das wiederum führt zu einem starken Rückgang an Massenproduktionen für die Kinos. Die Kinoverwertung verliert ihren Reiz. Die bittere Rechnung dafür wurde 2022 gestellt.

Trotz den strukturellen Problemen der türkischen Kinobranche mit entsprechenden wirtschaftlichen Folgen, sorgen einzelne Filme dennoch für Hoffnung. Die gesellschaftspolitische Situation der letzten zehn Jahre in der Türkei wurde bisher sowohl in Mainstream-Produktionen als auch in den meisten der unabhängigen Filme eher stotternd erzählt. Eine klarere Sprache zum Beispiel für die vor allem in der Türkei herrschende Lynchkultur fanden Emin Alper in “Kurak Günler” (Burning Days) und Özcan Alper in “Karanlık Gece” (Dunkle Nacht). So kompromisslos, dass beide Regisseure für ihre hervorragenden Werke quasi öffentlich bestraft wurden. Doch nach dem Kinostart von “Kurak Günler” wurde klar, dass das Publikum diesen Lynchversuchen die rote Karte zeigte.

Auch Tayfun Pirselimoğlus “Kerr” erinnert uns daran, in welchen seltsamen Zeiten wir leben, wie unsere Wahrnehmung umzingelt und zerstört wird und in welcher Atmosphäre wir trotzdem ein- und ausatmen können. Weitere herausragende Film waren sicherlich auch „Okul Tıraşı“ (Brother’s Keeper), „Beni Sevenler Listesi“ (Liste derer, die mich lieben) und „Zuhal“. Den Mainstream erstürmte “Bergen”. Das Leben der Sängerin Bergen, die in den 1990er Jahren der Männergewalt zum Opfer fiel, wird im Gegensatz zu einem bereits damals gedrehten anderen Biopic viel realistischer erzählt. Die Perspektive, die sie als Schicksalsopfer markiert, wird auf den Kopf gestellt. Horrorfilme und Thriller gab es 2022 im Überfluss. Viele davon schafften es trotz ihren Kassenerfolgen nicht, sich künstlerisch zu behaupten. „Cici“ (Rückkehr), „Âşıklar Bayramı“ (Das Festival der Sänger) und „Cadı Üçlemesi 15+“ (Hexentrilogie 15+) zählten zu den Alternativen in dieser Sparte, die auf digitalen Plattformen präsentiert wurden.

Und auf den Filmfestivals, die sich nach der Pandemie normalisierten, machten „Suna“, „Ayna Ayna“, (Spieglein Spieglein) „Ela ile Hilmi ve Ali“ (Ela mit Hilmi und Ali) , „Çilingir Sofrası“ und „Karanlık Gece“ (Dunkle Nacht) auf sich aufmerksam.

Viele der hier erwähnten Filme erzählen Geschichten von Menschen, die aufgrund der trüben Lage des Landes in einer Sackgasse befinden. Dass die Menschen in der Türkei pessimistisch sind, wenn sie ihre wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Erwartungen für die Zukunft aussprechen, ist verständlich. Dieser pessimistische Blick ist eingeschrieben in die Werke der Filmemacher:innen, in Geschichten über Elterngenerationen und Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit. Sie alle bestimmen die Gefühlswelten ihrer Charaktere. Kurzum, all diese Geschichten handeln vom derzeitigen Zustand ihres Landes.

Olkan Özyurt

Filmkritiker & Filmjournalist
Istanbul, Februar 2023