Eine Künstlerin, die der Stille eine Stimme verleiht: Nur Sürer
Eine Hommage
Seit über 40 Jahren prägt Nur Sürer die Filmwelt. Sie verbindet ihre persönliche Lebensphilosophie und Kreativität mit gesellschaftlichem Engagement. Ihr Ansatz: Kunst und Gesellschaft beeinflussen sich ständig gegenseitig – und das macht sie in jedem ihrer Werke erlebbar.
Nur Sürers künstlerische Laufbahn begann in einer Ära, in der sowohl das politische Klima als auch die Kinobranche in der Türkei von starken Umbrüchen betroffen war. Diese Prozesse führten zu einem neuen Verständnis der Schauspielkunst, zu deren ersten Vertreterinnen Sürer gehört. Ein Rückblick auf den Beginn ihrer Karriere, die sie mit Filmen und Fernsehserien nach wie vor sehr produktiv fortsetzt, ermöglicht uns, ihr kreatives Schaffen und ihre konsequente Haltung als engagierte Künstlerin besser zu verstehen.
In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre unterlag Yeşilçam, das türkische Hollywood, einer starken Transformation. Die auf einem Starsystem und regionaler Vorfinanzierung beruhenden Produktionsstrukturen lösten sich allmählich auf. Nach dem Militärputsch 1980 führten einerseits die politische Unterdrückung und andererseits die stark aufkommende Videotechnologie in Verbindung mit anderen Tendenzen in der Populärkultur dazu, dass Billigproduktionen den Filmmarkt zu bestimmen begannen. Die Erwartungen und Lösungsansätze der politischen Linken vor 1980 ermöglichten dennoch die Produktion einiger weniger Filme mit gesellschaftsrelevanten Themen. Während eine neue Generation von Regisseurinnen und Regisseuren die Probleme des Landes auf die Leinwand zu bringen versuchte, stellten sie zugleich neue Ansprüche an die Schauspielkunst. Nur Sürers gesellschaftspolitische Haltung und ihre Prioritäten ebneten für sie den Weg für Begegnungen mit Filmemacherinnen und Filmemachern, die die sich verändernden Probleme des Alltags bei Umgehung des politischen Drucks unter die Lupe zu nehmen versuchten. Kurz vor dem Militärputsch, noch bevor die Globalisierungsströme die Türkei erfassten, drehte Erden Kıral Bereketli Topraklar Üzerinde (Das fruchtbare Land), der zugleich Nur Sürers Debütfilm war, in dem sie die ersten Zeichen für ihre zukünftige Karriere setzte.
Das Drehbuch von Bereketli Topraklar Üzerinde ist eine Adaption von Tuncel Kurtiz aus dem gleichnamigen Roman Orhan Kemals. Der Film ist ein Meisterwerk, an dem erfahrene Theaterschauspieler wie Yaman Okay und Erkan Yücel entscheidenden Anteil hatten. Nur Sürer spielt hier die Figur Fatma, die sich den Agas unterwerfen und als Frau das Schicksal der herumgestoßenen Feldarbeiter teilen muss. Für die Frauen gleicht die Männerwelt dem System der Agas. Fatma, anmutig und neckisch, versucht gegenüber den Männern Stärke zu zeigen; sie leidet Not, nimmt aber kein Blatt vor den Mund, und sie ist intelligent. Durch ihre Performance gelingt es Nur Sürer, ihre Figur realistisch zu verkörpern. In Bir Günün Hikayesi (Die Geschichte eines Tages), in dem der Widerstand von Minenarbeitern den Hintergrund bildet, spielt Sürer Zeynep, die aufgrund von gesellschaftlichen Traditionen zwischen ihrer älteren Schwester und dem Mann, den sie liebt, feststeckt. Bereits für diese zweite Rolle wird sie 1983 beim Filmfestival Antalya ausgezeichnet. Im gleichen Jahr ist sie in Şerif Görens Derman (Die Abhilfe) als Bahar zu sehen, einer jungen Braut in einem das ganze Jahr über schneebedeckten Dorf in der Provinz Ağrı. Die traditionellen weiblichen Rollenbilder der Region verknüpftt sie in der neugierigen, lebensfrohen und charakterstarken Bahar und performt zusammen mit Hülya Koçyiğit, die eine Hebamme aus der Stadt spielt, ein harmonisches Schauspiel.
In Atıf Yılmaz’ mutigem Film Dul Bir Kadın (Eine geschiedene Frau), der die damals aktuellen Probleme der Frauen unter die Lupe nimmt, gestaltet Nur Sürer zusammen mit Müjde Ar ein Duett parexcellence. Nach Zeki Öktens Ses (Die Stimme) sehen wir Nur Sürer in Tunç Başarans unvergesslichem Politdrama Uçurtmayı Vurmasınlar (Lasst den Drachen fliegen). Für ihre Rolle als İnci, einer politischen Gefangenen, die einem kleinen Jungen, der in einer Großzelle mit Frauen aufwächst, die Außenwelt mit großer Hoffnung beschreibt, wurde sie beim 26. Goldene Orange Filmfestival in Antalya als »Beste Schauspielerin « ausgezeichnet. Mit diesem Film wurde Sürer zum Symbol für den Traum nach Freiheit in den eigenen vier Wänden, aufrecht erhaltene Hoffnungen und die Solidarität zwischen Frauen. In Xavier Kollers 1991 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichneten Werk Reise der Hoffnung (Umuda Yolculuk), der vom immer noch andauernden Menschheitsdrama der Flucht und Migration handelt, glänzt Nur Sürer wie nie zuvor. Auf einer langen Reise von Maraş im Südosten der Türkei in die Schweiz verkörpert sie die zwischen Hoffnung und Verzweiflung zerrissene Figur Meryem mit einem beeindruckenden Realismus.
Nur Sürer gelingt es stets, die Tiefen der inneren Welt ihrer Figuren erfolgreich zutage zu fördern und den schweigsamen Momenten der Charaktere mit ihrer Schauspielkunst Ausdruck zu verleihen. Als Künstlerin analysiert sie die Realität ihrer Figuren akribisch und stellt unter Beweis, dass sie in der Lage ist, ihre Beobachtungsgabe und Kreativität für den Film als Gesamtkunstwerk einzusetzen.
Nur Sürers seit über 40 Jahren kontinuierlich andauerndes Abenteuer, sowohl in Filmen als auch in Fernsehserien, in wenigen Absätzen zu beschreiben. ist natürlich nicht möglich. Worin sich aber sicherlich alle unumstritten einig sind, ist die Tatsache, dass sie mit ihrem Verantwortungsbewusstsein als Künstlerin und ihrer gesellschaftspolitischen Haltung eine Schauspielerin ist, die ihre Rollen mit größter Sorgfalt auswählt und sich allen Charakteren, die sie verkörpert, mit gleicher Ernsthaftigkeit nähert und sie bravourös interpretiert.
Prof. Dr. Ayla Kanbur
Dozentin, Autorin