Blättern wir ins Jahr 1970 zurück. Das Internationale Film Festival von Berlin hatte den Film eines noch wenig bekannten jungen Regisseurs in den Wettbewerb eingeladen, "o.k." von Michael Verhoeven. Vier Soldaten vergewaltigen und ermorden eine junge Frau. Der Vorfall, auf den sich der Film bezog, lag vier Jahre zurück und wurde vom Krieg in Vietnam berichtet. "o.k." erzählte also von GIs, die eine junge Vietnamesin misshandelten und umbrachten (Eva Mattes spielte, auch sie am Beginn ihrer Karriere).  

Der Präsident der internationalen Jury, damals in Berlin, war ein amerikanischer Filmemacher, George Stevens. Er sah den Film als anti-amerikanische Propaganda. Was er ja auch war. Er fügte sich ein in die Vietnam-Demonstrationen der deutschen und europäischen Intellektuellen der 60er Jahre. Stevens und die amerikanische Delegation bestanden darauf, "o.k." aus dem Wettbewerb zu nehmen. Andere Regisseure solidarisierten sich mit Michael Verhoeven und zogen ihre Filme aus dem Wettbewerb zurück. Stevens, und mit ihm die gesamte Jury traten zurück. Das Festival endete im Chaos und wurde abgebrochen.  

(Der Autor dieser Zeilen sah 1970 die Berliner Vorführung von "o.k." als Mitglied einer anderen Jury, der Jury der internationalen Filmkritik FIPRESCI. Es war seine erste Jury. Sie löste sich ebenfalls auf.) 

Michael Verhoeven hatte schon vor "o.k." Erfahrungen mit dem Kino gemacht. Er wurde 1938 in Berlin in einer Theater- und Film-Familie geboren. Seine Mutter war Schauspielerin, sein Vater war Schauspieler und Theater- und Film-Regisseur. Bereits als Kind ging er in ein Film-Studio.  

Er bekam Rollen im deutschen Unterhaltungsfilm der 50er und beginnenden 60er Jahre, in "Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker" (1958), "Das Haus in Montevideo" (1963). Er konnte von den besten Schauspieler-Regisseuren der Zeit lernen, Kurt Hoffmann, Helmut Käutner, dem Franzosen Julien Duvivier, oder Paul Verhoeven, seinem Vater. Später, in seinen eigenen Filmen, ist es immer ein Vergnügen zu sehen, wie hervorragend, wie genau, wie liebevoll er mit Schauspieler/innen umgeht.  

Seinen ersten Film als Regisseur drehte er 1967, die Strindberg-Adaption "Paarungen" ("Totentanz", über eine Ehe als Hölle). Produziert wurde der Film von Michael Verhoeven – und von Senta Berger. Die beiden hatten 1966 geheiratet. Sie hatten die Firma "Sentana Filmproduktion" gegründet. Es gibt sie bis heute, das Beispiel einer außergewöhnlichen Zusammenarbeit beim Filmemachen (und im Leben) über Jahrzehnte hinweg. Über Sentana liefen viele Projekte der beiden, darunter Filme, die fürs Fernsehen entstanden, wie die Serie "Die schnelle Gerdi" über den Alltag einer Münchner Taxi-Fahrerin (sechs Folgen 1989, gefolgt von sechs weiteren Folgen 2003). Auch die beiden Söhne wurden in der Firma für eigene Projekte betreut, Simon (Regie) und Luca (Produktion). 

Parallel zu seinen filmischen Projekten schloss Michael Verhoeven eine Ausbildung in einem ganz anderen Beruf ab. Er wurde Arzt (1969), übte den Beruf auch aus. "Ich habe nie bereut, dass ich ein Doppelleben führen konnte". Er tat es. Aber das ist eine andere Geschichte. Obwohl zu beiden Berufen ein soziales Interesse gehört, eine Lust an der Wirklichkeit, ein Impuls, den Menschen helfen zu wollen, mit Pillen oder durch Geschichten. 

Michael Verhoeven wurde ein "politischer Regisseur" genannt. Mag sein. "Die weiße Rose" (1982) war der wahrscheinlich erste Film über die Geschwister Scholl. Er entstand zu einer Zeit, als eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit noch keineswegs an der Tagesordnung war. "Das schreckliche Mädchen" (1989, nominiert für einen Oscar) erzählt von einer Schülerin, die die Rolle ihrer Heimatstadt (Passau) im Dritten Reich untersucht, nicht eben zur Freude der Einwohner. Die Beschäftigung mit dem Dritten Reich, dem Nationalsozialismus, seinen Folgen zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Das betrifft auch seine dokumentarische Arbeit, etwa den Film "Der unbekannte Soldat" (2006), der aus Anlass einer "Wehrmachtsausstellung" die Verbrechen von Hitlers Wehrmacht recherchierte.  

Es sind die politischen Themen unserer Tage, die ihn provozieren. Er macht sie stets auf eine sensible Weise an Menschen fest, an persönlichen Schicksalen, an denen, die unter politischen und gesellschaftlichen Umständen leiden. An den Opfern. Dabei sind es oft Frauen, die er in den Mittelpunkt seiner Filme rückt. So auch in einem seiner späteren, einem seiner schönsten Filme, "Mutters Courage" (1994/95). Michael Verhoeven erzählt die Geschichte einer unpolitischen Frau in politischen Zeiten. Der Film folgt einer autobiografischen Erzählung von George Tabori, über seine  Mutter, die 1944 auf wundersame Weise den Transport nach Auschwitz überlebte.  

Die Rede müsste noch sein von seiner Lust am Dokumentarfilm; von seinen zahlreichen Arbeiten fürs Fernsehen (und fürs Theater); von seinen filmpolitischen Aktivitäten. Sowie von seinen zahllosen Auszeichnungen. Und von seiner Bescheidenheit, sich stets in den Dienst seiner Themen und Figuren zu stellen.  

In Michael Verhoevens Filmen sind die besten Qualitäten des deutschen Films vereint.  

Klaus Eder 
Februar, 2023, München 
FIPRESCI Generalsekretär  
Internationaler Verband der Filmkritik