Die Schrifstellerin und Türkei PEN Präsidentin Zeynep Oral wird am 8. März zu einer Lesung und Gespräch in Nürnberg und in Erlangen sein. Am 10. März nimmt sie an der Festivaleröffnung teil.  

Anläßlich des Erdbebens hat sie ihre Kolumne vom 16.02.2023 in der Tageszeitung Cumhuriyet dem Thema „Folgen auf die Kunst und Kultur“ gewidmet, die wir hier aus aktuellem Anlass mit Genehmigung von Frau Oral veröffentlichen.  

Opfert nicht auch die Kunst!  

Ja, wir leiden unendlich. Ja, wir verbrennen innerlich. Ja, wir vergießen blutige Tränen. 
Wenn ihr aber glaubt, unsere Wunden können wir heilen, weil wir vor den Bildschirmen heulen, uns nur beklagen oder die Nachrichten, die wir mitbekommen, immer und immer wieder auf Facebook teilen, dann irrt ihr euch! 

Nur wenn ihr euch bei den Solidaritätsaktionen aktiv beteiligt, könnt ihr das Gefühl der Hilflosigkeit überwinden und für einen Hoffnungsschimmer in euch sorgen! 
Zehn Tage nach dem Edbeben kamen zu all den Fehlern der Regierung zwei verheerende dazu. Zum einen das Versprechen, die zerstörten Gebäude an Ort und Stelle schnellstmöglich wiederaufzubauen. Zum anderen die Entscheidung, die Schulen zu schließen und die Universitäten auf Online-Studium umzustellen. Beim ersteren flehen uns die Expert:innen an, die Häuser auf keinen Fall an derselben Stelle wieder zu errichten. Beim letzteren sind sich alle Bildungsinstutionen, Studierendenvereinigungen, Psycholog:innen und Pädagog:innen einig darüber, dass diese Entscheidung falsch ist. Eğitim-Sen, die Gewerkschaft für Bildung, hat bereits Klage dagegen eingereicht. Auch wenn die verantwortlichen Entscheidungsträger dem Unwissen huldigen, darf die Bildung nicht eingeschränkt, das Recht auf Bildung nicht beraubt werden! 

Der Mensch ist ein soziales Tier 

Wie kann man denn allen klar machen, dass die Menschen gerade jetzt einander brauchen: Damit sie Angesicht zu Angesicht reden, sich zusammentreffen, sich berühren und umarmen können. Der Mensch ist ein soziales Tier. Gerade jetzt, wo alle nach einer 20-jährigen Politik der Diskriminierung und Polarisierung in Vereinsamung und Hass versunken und “zum Anderen” abgestempelt sind und unter Hoffnungslosigkeit leiden, wäre das Schlimmste, was man den jungen Menschen antun kann, sie voneinander und von ihren Lehrkräften zu trennen, sie aus ihren gemeinsam gestaltenen Räumen auszuschließen.  

Wir sehen wie auch unser Kunst- und Kulturleben von diesem bösartigen Vorgehen betroffen ist. Die Musik ist verstummt, die Theaterbühnen geschlossen. Das darf nicht sein! Es ist falsch! 

Meine Herren, seid vernünftig! Sowohl Musik als auch Theater beruht auf einem Grundbedürfnis, auf dem Gefühl des Teilens und der Solidarität. Die Menschen brauchen es unbedingt, gemeinsam, nebeneinander, Schulter an Schulter Musik zu hören und Theater zu sehen. 

Die Ursprünge der Kunst 

Das Wort Theater (auf Griechisch „Theatron“, Schaustätte) bedeutet seit Dionysos eine gemeinsame Schaustätte für Menschen, vom Westen in England bis hin zum Osten in China und Japan. Das Theater hat seine Ursprünge in Religion und Glauben. 

Der Chor in der westlichen und der Meddah in unserer Theatertradition, in den dörflichen Schauspielen, den sogenannten Mittenspielen, sind „Erzählende“. Sie sind Erzählerinnen von gemeinsamen Gefühlen, die sie in das Publikum tragen. Sie sind „Zunge und Ohr“ der Massen, Mittlerinnen von gemeinsamen „Gefühlen und Gedanken“ aller. 

Musik und Theater darf nicht zum Schweigen gebracht werden. Im Gegenteil, wir brauchen sie heute dringender denn je um die Schmerzen zu teilen, die Solidarität zu erhöhen; um das Ungesehene sichtbar zu machen, die Wunden zu verbinden; um Güte, Emphatie und Schulterschluss walten zu lassen. 

In ihrem gestrigen Artikel hat Evin İlyasoğlu Beispiele aus Requiems und Klageliedern gegeben. Yazgülü Aldoğan hat in ihrer vorgestern veröffentlichen Reportage mit dem Titel “Musik verbindet die Wunden” auf das gleiche Thema aufmerksam gemacht. Ich danke beiden!  

Das letzte Wort überlasse ich Nâzım Hikmet, jenen Zeilen in seinem Gedicht „Strohblond“, in dem er die Kunst definiert: „Ich denke an unser Handwerk / Ich denke an Dichterei, Malerei, Musikerei und ähnliches und begreife / wie ein großer Fluß fließt, seit die Menschenhand den ersten Büffel in ihrer ersten Höhle zeichnete / Und in ihn münden alle Bächer ein mit neuen Fischen, neuen Wasserpflanzen und neuen Reizen / Und er ist der einzige, der nicht vertrocknet und unendlich fließt“ 

Versucht nicht auch die Kunst zu vertrocknen und sie zu opfern, wie ihr das gerade mit Bildung versucht! 

Zeynep Oral, 16.2.2023 
www.zeyneporal.com​​​​​​​ 

Übersetzt von Tunçay Kulaoğlu